Megatrends und ihre Auswirkungen auf Qualitätsmanagementsysteme: von der Theorie zur gelebten Praxis

Die ISO 9001 wird aktuell überarbeitet, noch ist unbekannt, wann die neue Normrevision veröffentlicht wird. Eins aber ist sicher: dass Unternehmen sich künftig mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre beschäftigen müssen und den daraus resultierenden Zukunftsthemen Klimaschutz, transparente Lieferkette und Auswirkung des demokratischen Wandels.

Wie sieht der Weg vom eingeführten Qualitätsmanagementsystem (QMS) bis zum Nachhaltigkeitsmanagement aus? Wie viel Nachhaltigkeit steckt bereits in der ISO 9001? Wie ist der am wenigsten aufwendige und kostengünstigste Weg, die neuen Anforderungen und Erwartungen zu erfüllen? Hierüber haben wir mit der Fachbereichsleiterin und Expertin für Nachhaltige Entwicklung, Leiterin der GUTcert Akademie und Auditorin Yulia Felker gesprochen.

GC: Die neue Normrevision nach ISO 9001 soll die Auswirkungen globaler Veränderungen berücksichtigen. Welche sind das aktuell und wieso sollten sie im Qualitätsmanagement berücksichtigt werden?

Felker: Das Thema Klimawandel ist nicht nur ein Muss bei der CSRD, sondern wird ab November 2024 auch bei allen Managementsystemen im Rahmen der Kontextanalyse explizit berücksichtigt. Viele unserer Kunden aus dem verarbeitenden Gewerbe – etwa in der Verarbeitung von natürlichen Rohstoffen wie Baumwolle, Wolle oder Lebensmitteln – kämpfen bereits seit Jahren mit der schwankenden Qualität der Rohstoffe infolge des Klimawandels.

Selbst die Prozesse können nicht mehr wie früher ablaufen: Es muss ggf. mehr gekühlt, getrocknet oder vorgearbeitet werden, was zusätzlichen Energieaufwand erfordert. Neue Prozessschritte müssen eingeführt werden, um die zugesagte gewünschte Qualität zu gewährleisten. Infolgedessen kann es notwendig werden, Prozesse zu ändern, Produktionslinien anzupassen, neue Technologien einzuführen, Preise zu erhöhen oder auf andere Produkte umzustellen.

Auch Unternehmen, die nicht direkt vom Klimawandel betroffen sind, könnten unter lokalen Überschwemmungen leiden. Hier stellt sich die Frage, was getan werden kann, um die bestehende Infrastruktur zu schützen. Viele dieser Themen werden bereits jetzt von Unternehmen im Rahmen der Kontext- sowie der Risiko- und Chancenanalyse im QMS behandelt. Qualitätsmanagement (QM) kann hier wertvolle Einblicke liefern, etwa zur Frage, wie die Produktionslinie aussehen sollte und was getan werden kann, wenn Rohstoffe anfällig sind. Sollten die Auswirkungen des Klimawandels gemildert werden oder bietet sich eher das Erschließen neuer Möglichkeiten an?

Auch gesellschaftliche Trends sollten im QM berücksichtigt werden. Ein Beispiel ist der Trend, weniger Plastik zu verwenden. Er brachte die kunststoffverarbeitende Industrie dazu, auf neue Technologien wie recycelbares Plastik umzusteigen, um neue Märkte zu erschließen und neue Branchen zu beliefern. Dadurch änderte sich das Geschäftsmodell.

GC: Spielen weitere Megatrends, wie z.B. der Fachkräftemangel und Migrationsflüsse eine Rolle im Qualitätsmanagement?

Felker: Ja, der Fachkräftemangel und die Migrationsflüsse sind bedeutende Megatrends, die zunehmend auch das QM beeinflussen. Die ISO 9001 legt großen Wert darauf, dass Mitarbeitende kompetent sein müssen, um die geforderten Qualitätsstandards zu erfüllen. In diesem Zusammenhang übernimmt das QM eine wichtige Rolle, um sicherzustellen, dass Unternehmen Strategien entwickeln, die sowohl die Personalentwicklung als auch die Integration von Mitarbeitenden fördern.

Der Fachkräftemangel zwingt Unternehmen dazu, ihre Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern. Dazu zählen Maßnahmen wie gezielte Schulungspläne, regelmäßige Mitarbeitergespräche und die Entwicklung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen. Hier kann das QMS unterstützen, indem es diese Prozesse systematisch erfasst, bewertet und die Verbesserung unterstützt. Personalmanagement und Mitarbeiterqualifizierung werden so zu zentralen Elementen des QM.

Darüber hinaus müssen Unternehmen auch auf Migrationsflüsse reagieren. Menschen mit ausländischem Hintergrund spielen eine immer wichtigere Rolle, um die Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. Das QM muss in diesem Kontext gewährleisten, dass Arbeitsanweisungen, Schulungsunterlagen und relevante Dokumentationen mehrsprachig verfügbar sind. Dies fördert die Integration und ermöglicht eine reibungslose Kommunikation, was entscheidend ist, um die Kompetenzanforderungen der ISO 9001 zu erfüllen.

Zusätzlich zeigt das QM, Risiken auf. Ein unzureichender Fokus auf Personalentwicklung und -integration kann dazu führen, dass Unternehmen nicht die Mitarbeitenden mit den benötigten Qualifikationen gewinnen und binden können. Daher ist es wichtig, diese Risiken gegenüber der Geschäftsführung und dem Personalmanagement zu betonen.

Bei einem Managementsystem, im Gegensatz zu mehreren oder integrierten Managementsystemen, ist die Lücke (GAP) allerdings größer, da das Themenspektrum wesentlich breiter wird. Doch dank des PDCA-Zyklus und eines systemischen Ansatzes kann das Unternehmen auf Basis eines Managementsystems problemlos weitere Systeme integrieren. Werden alle drei Managementsysteme (ISO 9001, ISO 14001 und ISO 45001) zusammen mit dem Energiemanagementsystem nach ISO 50001 integriert verfolgt, decken sie den Großteil der für die Nachhaltige Entwicklung als relevant eingestuften Themen in unterschiedlicher Intensität ab. Mit einem integrierten Managementsystem ließen sich beispielweise 80-90% der Anforderungen des Lieferkettengesetzes erfüllen.

GC: Was treibt Unternehmen an, sich auf Nachhaltigkeit zu fokussieren?

Felker: Vor allem der Markt verlangt heute, dass sich Unternehmen in Richtung Nachhaltigkeit bewegen. Nachhaltigkeit wird immer stärker von Lieferanten, großen Händlern, Schnittstellen und anderen Stakeholdern gefordert. Egal, ob es um Akquise neuer Aufträge oder Markteinführung neuer Produkten geht, das Nachhaltigkeits-Image des Unternehmens spielt eine große Rolle. Selbst bei der Suche nach qualifizierten Fachkräften wirken nachhaltige Unternehmen als Arbeitgeber attraktiver.

Die Gesetzgebung betrifft derzeit nur große Unternehmen. Zum Beispiel sind im Rahmen der CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) ab dem 01.01.2025 alle Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern oder mehr als 50 Mio. Euro Umsatz oder einer Bilanzsumme von mehr als 25 Mio. Euro betroffen. Aber auch kleinere Unternehmen müssen zunehmend Nachweise, Kennzahlen und andere Informationen von ihren Lieferanten vorlegen. Deshalb erleben wir aktuell einen Boom von Unternehmen, die sich freiwillig mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen – solange sie noch Zeit haben.

GC: Wie eignet sich ein QMS nach ISO 9001 für die Integration von Nachhaltigkeitsthemen?

Felker: Das Nachhaltigkeitsmanagement ist übergeordnet, während das Qualitätsmanagement einen Teilbereich davon darstellt und für wirtschaftliche Themen verantwortlich ist. Ein bestehendes QMS nach ISO 9001 bietet den Vorteil, dass Unternehmen nicht bei Null anfangen müssen. Viele Grundlagen sind bereits vorhanden und die systemische Vorgehensweise ist bekannt: Kommunikationsstrukturen, Dokumentation, Disziplin bei der Zielsetzung sowie Vorgabedokumente existieren bereits. Die in der ISO 9001 verankerten Ansätze können systematisch auf die Nachhaltigkeit erweitert werden. Das bedeutet, dass Elemente des QMS – wie der Kontext der Organisation, die Stakeholderanalyse, Unternehmenspolitik und Ziele, Dokumentation, Kennzahlensystem, Schulungskonzepte, internes Audit und die Managementbewertung – lediglich um Nachhaltigkeitsaspekte ergänzt werden müssen.

GC: Wie können etablierte Managementsysteme hilfreich sein, um den Weg einer systematischen Nachhaltigen Entwicklung einzuschlagen?

Felker: Bereits eingeführte, oftmals zertifizierte Managementsysteme helfen dabei, langfristig angelegte Aufgaben in komplexen Organisationen effizient zu strukturieren. Sie eignen sich daher gut als Fundament für eine Nachhaltige Entwicklung.

Zudem heißt es in der Einleitung der DIN EN ISO 9001, dass diese Norm zur nachhaltigen Entwicklung von Unternehmen und Gesellschaft beiträgt. Sie fördert beispielsweise die Stabilität des Geschäftsmodells durch zufriedene Kunden, angepasste Produkt- und Dienstleistungsangebote, Stakeholderanalyse oder Marktforschung. Eine Stakeholderanalyse ist eine unverzichtbare Anforderung im Bereich Nachhaltigkeit. Seit der Einführung der High Level Structure (HLS) im Jahr 2015 bietet jede etablierte Managementnorm eine gute Schnittstelle zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, da die Stakeholder- sowie die Risiko- und Chancenanalyse fester Bestandteil der neuen Anforderungen sind.

GC: Wie sieht die Integration des Lieferkettengesetzes in das QMS aus?

Felker: Ein QMS spielt eine zentrale Rolle bei der Lieferantenbewertung. Die typischen Kriterien wie Liefertreue, Qualität und Lieferzeiten können problemlos um soziale und ökologische Aspekte erweitert werden. Es sind bereits Datenbanken vorhanden, regelmäßige Kontrollen finden statt, und Verträge können um Klauseln zu Nachhaltigkeitsanforderungen ergänzt werden.

GC: In welchen Bereichen greift Nachhaltigkeit im Unternehmen ein?

Felker: Nachhaltigkeit im Unternehmen lässt sich in zwei Ebenen unterteilen: die Produkt- und die Unternehmensebene. Viele Anforderungen an Nachhaltigkeit werden bereits auf Produktebene gestellt. Nachhaltigkeit wird hier oft direkt durch Kundenanforderungen definiert. Insbesondere im B2C-Bereich, wie bei Lebensmittel- oder Möbelherstellern, sind Nachhaltigkeits-Logos oder spezifische Standards Voraussetzung, um am Markt erfolgreich zu sein. Dabei spielt der Product Carbon Footprint (PCF) eine zentrale Rolle, der den CO₂-Fußabdruck eines Produkts beschreibt. Das QM ist hierbei eine entscheidende Schnittstelle, da es die Qualität der Rohstoffe und deren Eignung für nachhaltigere Alternativen prüft. QM unterstützt dabei, Entscheidungen zu treffen, wie z.B. die Wahl neuer Rohstoffe oder die Optimierung von Prozessen, um den CO₂-Fußabdruck zu reduzieren. Dies eröffnet Chancen, z. B. CO₂-neutrale Produkte zu entwickeln und am Markt zu positionieren.

Auf Unternehmensebene geht es um den Corporate Carbon Footprint (CCF), der den CO₂-Fußabdruck des gesamten Unternehmens umfasst. Nachhaltigkeit auf dieser Ebene bedeutet, alle relevanten Aspekte – wie Strategie, Zielsetzung, Budgetierung und Lieferkettenmanagement – in betriebliche Entscheidungen zu integrieren. Das QM unterstützt, indem es bestehende Prozesse um Nachhaltigkeitsaspekte erweitert und sicherstellt, dass Qualitäts- und Nachhaltigkeitsziele in Einklang stehen. Zudem wirkt das QM als wichtige Schnittstelle, um technologische Anpassungen oder neue Produktionslinien zu bewerten und gegebenenfalls zu initiieren.

GC: Wie gestaltet sich die Rolle des Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB) in einem sich ständig wandelnden Umfeld? Welche Herausforderungen ergeben sich dabei?

Felker: Der QMB hat eine zentrale Rolle, da er als Schnittstelle zwischen Qualität, Nachhaltigkeit und gesetzlichen Anforderungen wie der CSRD oder dem Lieferkettengesetz agiert. Themen wie Rohstoffqualität, Produktverantwortung und Nachverfolgbarkeit fallen direkt in seinen Verantwortungsbereich. Er überprüft beispielsweise, welche Rohstoffe verwendet werden, wie nachhaltig diese sind, und ob bestimmte Nachhaltigkeitsstandards oder Marketinglogos erfüllt werden können. Bei Nachhaltigkeitschecks oder -berichten wird der QMB regelmäßig für spezifische Themenabschnitte herangezogen, da diese eng mit der Herstellung von Produkten oder Dienstleistungen verbunden sind.

Eine besondere Herausforderung ergibt sich aus den teilweise widersprüchlichen Zielen verschiedener Systeme – z. B. zwischen QM und Umweltmanagement. Da Budgets oft begrenzt sind, kann es zu Konflikten zwischen den Maßnahmen für unterschiedliche Systeme kommen. Hier besitzt der QMB häufig ein Vetorecht, um die Qualität der Waren und Dienstleistungen zu sichern. Seine Aufgabe besteht darin, Prioritäten zu setzen und Anforderungen zu sortieren, um die verschiedenen Ziele in Einklang zu bringen. Zudem erfährt das QM derzeit eine erweiterte Risikobetrachtung, die früher weniger üblich war. Sie umfasst nicht nur klassische Qualitätsrisiken, sondern auch solche, die sich aus Nachhaltigkeitsanforderungen oder gesetzlichen Verpflichtungen ergeben. Der QMB muss sich intensiv mit diesen Themen auseinandersetzen, da Unternehmen nicht nur nachhaltig agieren, sondern auch eine Vielzahl von Gesetzen und Vorschriften einhalten müssen. Unterstützt durch die Unternehmensleitung sichert der QMB so Qualität trotz wachsender Anforderungen.

GC: Kann der QMB gleichzeitig als Nachhaltigkeitsmanagementbeauftragter (NMB) fungieren?

Felker: Es ist möglich, dass der QMB auch Aufgaben des NMB übernimmt, allerdings ist dies mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden. Eine sinnvolle Lösung wäre, nicht die gesamte Verantwortung auf eine Person zu konzentrieren, sondern ein Team aus verschiedenen Beauftragten und Schnittstellenfunktionen aufzubauen. Der QMB gehört auf jeden Fall zu den zentralen Akteuren, da viele relevante Informationen im Qualitätsmanagement bereits vorhanden sind. Durch die Zusammenarbeit mehrerer Beauftragter wird die Integration und Umsetzung der Anforderungen beider Managementsysteme deutlich effizienter.

GC: Wie lange dauert es, ein Nachhaltigkeitsmanagementsystem auf Basis eines bestehenden Systems wie der ISO 9001 aufzubauen?

Felker: Der Aufbau eines NMS auf ein bestehendes System wie ISO 9001 dauert in der Regel mindestens ein Jahr, wenn die neuen Strukturen im laufenden Betrieb integriert werden sollen und ausreichend Zeit für die Entwicklung von Kompetenz und Input eingeplant wird. Alternativ kann ein Berater hinzugezogen werden, jedoch sollte die aktive Beteiligung des Unternehmens sichergestellt sein, da fertige Lösungen von außen meist nicht funktionieren.

Die Dauer kann verkürzt werden, wenn das Unternehmen bereits viele relevante Strukturen und Prozesse – beispielsweise durch Anforderungen des Lieferkettengesetzes – implementiert hat. Bereiche wie Arbeitsschutz oder Gesundheitsmanagement sind häufig bereits abgedeckt, während Themen wie nachhaltiges Personalmanagement, insbesondere Soft-HR-Aspekte wie Familienfreundlichkeit und Personalentwicklung, oft noch fehlen und integriert werden müssen.

Wenn man das QMS als Instrument zur Sicherung des Unternehmens versteht, sollte man sich gegenüber den Megatrend-Themen auf keinen Fall verschließen.

 

Bei inhaltlichen Rückfragen wenden Sie sich gerne an die Ansprechpersonen der GUTcert.

 

GUTcert Mitarbeiterin Yulia Felker

Yulia Felker

Bereichsleiterin Nachhaltige Entwicklung, Lead-Auditorin ISO 14001, ISO 50001, ISO 20121
yulia.felker@gut-cert.de

 

 

 

GUTcert Mitarbeiterin Miroslava Dubinetska

Miroslava Dubinetska

Produktmanagerin ISO 9001 & IMS
miroslava.dubinetska@gut-cert.de

 

 

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