ISO-Managementsysteme in der Chemieindustrie 2019: Stand der Umsetzung

Die GUTcert nahm mehrere Auditberichte unter die Lupe, um zu schauen, wie sich Unternehmen in der Chemieindustrie in Bezug auf die Herausforderungen von Managementsystemen entwickeln

Eine standardisierte Vorlage für Auditberichte stellt sicher, dass normspezifische Anforderungen erfüllt werden. Aber sie bietet dem geschulten Auge auch einen schnellen Vergleich von Systemreife, Umsetzungswegen und Besonderheiten des Unternehmens.

Hinter der Bezeichnung „Scope 12“ verbirgt sich in der Sprache der Zertifizierungsgesellschaften eine weite Brandbreite an Produkten – von Grundstoffen und industriellen Vorprodukten bis hin zu Kosmetika. Laut Statista (2018) ist die chemisch-pharmazeutische Industrie die drittgrößte deutsche Industriebranche. Damit gehört Deutschland zu den fünf führenden Ländern im Außenhandel mit chemisch-pharmazeutischen Produkten.

Aus den Zertifizierungsberichten verschiedener Managementsysteme bei mittelständischen und großen Unternehmen der chemische-pharmazeutischen Branche lässt sich zusammenfassend festhalten: Größere Branchenplayer betreiben in der Regel seit Jahren mehrere ISO-Managementsysteme parallel. Qualitäts-, Umwelt-, Arbeitssicherheits- und Energiemanagement werden integriert in ganzer Breite oder in verschiedenen Kombinationen gelebt. Dabei bezeichnen die Auditoren die systemische Entwicklung größtenteils als „reif“.

 

Stärken: Das loben die Auditoren

Kenntnisstand und Engagement der Managementverantwortlichen / wachsende Rolle der Führung

Diese Entwicklung ist vor allem auf die Anforderungen der High Level Structure (HLS) der ISO-Welt zurückzuführen. Das dort obligatorische Auseinandersetzen mit den Belangen von Stakeholdern und die Forderung, den Planungsprozess auf den Ergebnissen der Kontextanalyse aufzustellen, bringen die oberste und mittlere Führungsebene enger zusammen. Das gemeinsame Arbeiten von Top Management, Managementverantwortlichen und Bereichsleitern in Workshops ist gem. den Auditberichten ein etabliertes Instrument, um Risiken und Chancen für das nächste Geschäftsjahr zu definieren und so gewappnet in den Planungsprozess zu starten.

Reife und Verfügbarkeit der dokumentierten Information, die relevante Geschäftsprozesse abbilden

Die dokumentierten Informationen liegen nach wie vor meistens in Form von Handbüchern vor, auch wenn dies von den ISO-Standards nicht mehr gefordert wird. Die Dokumentation wird dabei jedoch fast ausschließlich digital geführt, was durch das Intranet die Verfügbarkeit und Aktualität der im Arbeitsalltag notwendigen Informationen – Prozessbeschreibungen, Verfahrens- und Arbeitsanweisungen, Sicherheitsblätter etc. – für die Mitarbeiter sichert. Auch Aushänge sind jedoch nach wie vor ein bewährtes Informations- und Kommunikationsmittel in Werkshallen.

Rechts- und Gefahrstoffkataster sowie etablierte Compliance Audits

Hohe Umwelt- und Arbeitssicherheitsrisiken gehören zum Geschäft in der Chemiebranche. Eine umfassende und komplexe Gesetzgebung und behördliche Einflussnahme wirken diesen entgegen. Um den Herausforderungen im Unternehmensalltag gerecht zu werden, betreiben viele Anlagenbetreiber der Branche schon seit Langem Managementsysteme. Die über Jahre intern und extern geprüften und gelebten Rechtskataster und das bestehende Berichtswesen an die Behörden sind damit zu einem festen Bestandteil der alltäglichen Arbeit für Beschäftigte auf allen Unternehmensebenen geworden, was definitiv als eine große Stärke zu werten ist.

Interne Audits

Die hohe Qualität der internen Audits spiegelt eine große Systemreife bei vielen Unternehmen wider. Gut ausgebildete und erfahrene Auditoren prüfen das Umsetzen von Normanforderungen, die Zielerreichung und weitere Möglichkeiten für die fortlaufende Verbesserung. Ein durchdachtes und eingehaltenes Auditprogramm wird in vielen Berichten von externen Auditoren als Stärke hervorgehoben.

 

Potentiale: Hier ist Luft nach oben

Integration von Managementsystemen

Werden mehrere Managementsysteme betrieben, sind diese oft noch nicht durchgängig integriert: Planungsprozesse, Budgetierung, interne Audits und Management-Bewertungen laufen häufig parallel, während die Dokumentation, Schulungen und interne Kommunikation bereits großenteils auf integrierter Basis umgesetzt werden.

Besonders wichtig für die Nachhaltige Entwicklung des Unternehmens ist es, die Risiken und Chancen in einem integrierten Prozess zu bewerten. Bekannterweise können systemrelevante Interessen miteinander kollidieren. So bringen etwa Energieersparnisse die Steuerrückerstattung in Gefahr oder die bestehenden Anforderungen an die Qualität erlauben wenig Spielraum für Beschaffung und Prozessoptimierung, wenn es um die gleichen technologischen Lösungen geht. Eine im Sinne der Beständigkeit und Risikoresistenz nachhaltige Unternehmensstrategie erfordert demzufolge einen multidimensionalen Ansatz, zu dem ein tatsächlich integriertes Managementsystem zumindest beitragen kann.

SMARTE Ziele

Die SMARTE Zielsetzung auf der operativen Ebene ist oft nicht durchgängig für alle Bereiche und Funktionen vorhanden, obwohl größere Player der Chemiebranche meist eindeutig (oft global) definierte mittelfristige strategische Ziele haben. In der Praxis bricht die Zielsetzungskette dann jedoch auf der Gesellschafts- oder Standortsebene ab.

In diesen Fällen ist das Plädoyer der Auditoren einstimmig: Für ein erfolgreiches Unternehmensmanagement ist es unabdingbar, eine klare Ziel- Kaskadierung für einzelne Unternehmensbereiche zu etablieren und diese mit mehreren Interessen zu verknüpfen, u. a. für das Umsetzen strategisch geplanter Ressourcenersparnisse, die Reduktion von Abfällen und Emissionen und das Verbessern der Energieeffizienz. Zum einen geht es darum, für die Managementverantwortlichen Klarheit über alle anstehenden Aufgaben zu schaffen, zum anderen um Investitionsentscheidungen: Denn die Auswahl der wesentlichen Themen und der damit verbundenen Investitionsentscheidungen der Geschäftsführung basieren vor allem auf unternehmerischen Notwendigkeiten, sprich, auf der Zielsetzung.

Bedenkt man, dass sich die Investitionsbereitschaft trotz weltweit steigender Nachfrage nach den Produkten der Branche eher rückläufig entwickelt, gewinnt die SMARTE operative Zielsetzung für die Budgetierung noch mehr an Bedeutung. Laut Statista beläuft sich die Investitionsquote auf 3,6% im Jahr 2018 vs. 5% in 2000 und 6,5% in 1990.

Verhältnismäßig wenige Hinweise zu Steuerungskennzahlen bei QMS, UMS und SGAMS

Werden mehrere Managementsysteme extern auditiert, wird in den Auditberichten in der Regel bei Qualitäts-, Umwelt- oder Arbeitssicherheitssystemen weniger zu Schlussfolgerungen (Hinweise, Empfehlungen oder Abweichungen) über die entsprechenden Steuerungskennzahlen geschrieben als beim Energiemanagement.

Dies bedeutet sicher nicht unterschiedliche Stringenz beim Prüfen relevanter Kennzahlen der verschiedenen Managementsysteme in den Audits. Ganz im Gegenteil, das Einhalten bspw. gesetzlich festgeschriebener oder selbstgesteckter Grenzwerte bei Umweltthemen, Arbeitsunfällen und Rücknahmequoten oder Reklamationen ist unabdingbarer Teil jedes (relevanten) Audits. Der Unterschied zum Energiemanagement (EnMS) liegt wahrscheinlich darin, dass für EnMS seit 2017 von der ISO 50003 und nun von der revidierten ISO 50001:2018 eine neue Methodik zur Nachweisführung für die tatsächlich erzielten Verbesserung der energiebezogenen Leistung gefordert ist. Das normkonforme Umsetzen in der Branche ist wegen der technologischen Komplexität nicht trivial und braucht seine Zeit.

 

EnMS – ein Sonderfall?

Die Chemiebranche ist sehr energieintensiv, was dem EnMS historisch einen hohen Stellenwert verschafft. Oft betreiben Unternehmen eigene Kraftwerke, um die Versorgung zu sichern und Kosten zu optimieren. Das stellten die Auditoren fest:

  • Alle Berichte weisen einen hohen Grad der messtechnischen Erfassung von SEUs aus, was maßgeblich auf die Anforderungen der ISO 50003 zur messtechnischen Transparenz als Grundlage der Zertifizierungsprüfung zurück­zuführen ist. Das erleichtert den Unternehmen den Übergang zu der neuen ISO 50001:2018 mit den entsprechenden Anforderungen.

  • Die Nachweisführung 2019 läuft in der Regel über die plausible, nachvollziehbare Darstellung der Verbesserung der energiebezogenen Leistung über einzelne Maßnahmen. Die gesparten kWh werden im Audit geprüft und im Bericht festgehalten.

  • Ein Großteil der ausgewerteten Auditberichte zeigt die größten Verbesserungspotenziale vor allem bei der Definition von spezifischen Energiekennzahlen und beim Anpassen von Energiebasen, die den Fortschritt des Unternehmens unter sich ständig ändernden Bedingungen (Auftragslage, Rohstoffeinsatz und deren Qualität etc.) abbilden.

  • Bei der Definition von übergeordneten Energiekennzahlen, die vorrangig der betrieblichen Steuerung und dem kaufmännischen Monitoring dienen, bleibt jedoch nach wie vor die Produktmenge ausschlaggebend. Referenz für den Energieverbrauch bei der Berichterstattung insbesondere an die Geschäftsführung sind in der Regel kWh Strom, Gas oder (umgerechnet) Dampf pro Tonne oder kg. Diese über die Jahre „festgefahrene“ Berichterstattung sollte nicht nur im Sinne der transparenten Nachweisführung, sondern vor allem aus kaufmännischer Perspektive revidiert werden. So verzerrt etwa eine unzureichende Normalisierung der Ausgangsbasen von Jahr zu Jahr u.U. die Entscheidungsgrundlage für weitere sinnvolle Investitionen und Innovationen. Die Konzentration bei der Analyse und der darauffolgenden Zielsetzung sollte daher auf einzelne Verbrauchergruppen mit definierten und normalisierten relevanten Variablen gelenkt werden.

  • Das quantitative Ermitteln von Einflussfaktoren ist eine große Herausforderung in der Branche. Die meist komplexen, oft verketteten Anlagen bedeuten u.U. mehrere schwer quantifizierbare Variablen. Die Auditorenberichte lassen jedoch darauf schließen, dass die zertifizierenden Unternehmen ihre Anlagen und Prozesse Stück für Stück immer tiefer quantitativ beschreiben. Darüber hinaus besteht seit einigen Jahren auf dem Markt ein, wenn auch vorsichtiger, Erfahrungsaustauch in den branchenspezifischen oder regionalen Energienetzwerken und auf der Ebene der Verbände oder Zertifizierer.

 

Fazit

Die Gesamtheit der ausgewerteten Auditberichte belegt, dass in der Branche großes Engagement gepaart mit viel Wissen dominieren. Die Compliance wird regelmäßig intern bewertet, gestützt durch lebendige Rechts- und Gefahrstoffkataster, und es wird umfassend und gründlich dokumentiert. Wer jedoch getreu dem GUTcert-Motto „immer besser werden“ handeln möchte, könnte vor allem an folgenden Stellschrauben drehen:

  • Vollständige Integration aller parallel betriebenen Managementsysteme
  • Ziel-Kaskadierung für einzelne Unternehmensbereiche
  • Identifikation wesentlicher Themen für damit verbundene Investitionsentscheidungen
  • Steuerungskennzahlen

Speziell im Bereich EnMS ist bei der Definition der spezifischen Energiekennzahlen noch Luft nach oben. Auch die bisher üblichen Berichte zum Energieverbrauch an die Geschäftsführung nach kWh Strom, Gas Dampf pro Tonne oder kg sollten überdacht werden, um eine verzerrte Entscheidungsgrundlage für Investitionen zu vermeiden.

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Yulia Felker ist Leiterin des Bereiches Nachhaltige Entwicklung/Akademie/Vertrieb bei der GUTcert sowie leitende Auditorin für ISO 50001 und ISO 14001.

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